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Helfer:innen der Berliner Hilfsorganisationen gehen auf Kameramann zu.

Krisenmanagement im Ahrtal: Ein persönlicher Blog

Boris Michalowski, war vom 26.07. bis 01.08.2021 im Katastrophengebiet im rheinland-pfälzischen Ahrtal im Einsatz. Als Master Sicherheitsmanagement und Verbandsführer wurde er über den ASB-Bundesverband zur Unterstützung des Einsatzstab Gesundheit als nachgelagerten Stab der Technischen Einsatzleitung angefordert. Insgesamt fünf Tage in jeweils 12-Stundenschichten wirkte er als Leiter des Sachgebietes S2 Lage mit. In diesem Blog berichtet er von seinen Erlebnissen und seinen Eindrücken.

Alternative für die Personen, die lieber hören als lesen möchten: Audiocast bei Soundcloud (45 Minuten) [Link]

Vorgeschichte
Die Bilder und die Medienberichte Mitte Juli waren sofort allgegenwärtig. Zunächst die dramatischen Ereignisse in NRW und die Bilder aus Wuppertal. Doch dann kamen die Berichte aus dem Ahrtal. Vor knapp 20 Jahren war ich bereits im Katastropheneinsatz im Müglitztal südlich von Dresden bei Heidenau. Dort gab es ähnliche Zerstörungen. Schnell wurde aber mit die nach oben schnellenden Opferzahlen klar, diese Schadenslage hat noch ganz andere Dimensionen. In Bad Neuenahr-Ahrweiler war gefühlt jede höhere Führungskraft im Katastrophenschutz schon mindestens einmal. Hier am Zugang zum wunderschönen Ahrtal liegt etwas oben auf dem Berg, die Bundesakademie für Bevölkerungsschutz und Zivile Verteidigung (BABZ). Und ausgerechnet ein paar Höhenmeter weiter unten ereignete sich eines der schlimmsten Extremwetterereignisse der Neuzeit.
In der Woche direkt nach dem Ereignis trudelten hier in Berlin die nationalen Hilfeersuche aus Rheinland-Pfalz ein, die wir als Berliner Hilfsorganisationen so schnell wie möglich beantworteten. Allerdings war auch klar, dass unsere überörtliche Hilfe nur begrenzt ist. Erstens hat Berlin zahlenmäßig nicht solch große Hilfeleistungskontingente wie die großen Flächenbundesländer, zweitens ist es um den Berliner Katastrophenschutz aus diversen Gründen nicht zum Besten bestellt – aber das möchte ich hier nicht noch näher ausführen – und drittens ist der Weg in Marschverbänden ein echter Ritt. Wir haben ihn auf 12 Stunden geschätzt. Ein Betreuungsplatz der DLRG, der sich aus Berlin auf den Weg machte, fuhr sage und schreibe 13 Stunden (nur eine Strecke). Am Freitag, 23.07.2021, kam schlussendlich die Stornierung der Berliner Hilfsangebote. Daher war zunächst Entspannung angesagt, wobei am Samstag, 24.07.2021 für mich zunächst mal die Leitung Sanitätsdienst beim 43. Berliner CSD anstand. Der erste echte Sanitätsgroßdienst seit anderthalb Jahren Corona-Pandemie.

Die Einsatzanfrage: Schnelle Entscheidung & ein flexibler Arbeitgeber
Am Sonntag, 25.07.2021 konnte ich bei einer gemütlichen Floßfahrt über die Berliner Seen gemütlich ausspannen und die Natur genießen. Wohlig erholt von einem tollen Tag, war ich um 20:00 wieder zu Hause und las dann die E-Mail – keine Stunde alt – in meinem ASB-Posteingang. Über den ASB-Bundesverband wurde eine Anfrage des ASB-Landesverband Rheinland-Pfalz weitergeleitet. Es wurden höhere Führungskräfte für die Übernahme & Leitung der Sachgebiete im Führungsstab der Hilfsorganisationen gesucht. Nach einem Telefonat mit Stefan vom ASB Rheinland-Pfalz sowie einigen Nachrichten an erfahrene Verbandsführer im ASB Berlin, ob sie ebenfalls Zeit hätten, stand für mich ziemlich schnell fest, dass ich runterfahren und helfen werde.
Zugegeben meine Motivation ist etwas ambivalent. Auf der einen Seite, bestand natürlich der Wunsch, zu helfen. Mit meiner guten Ausbildung als Master Sicherheitsmanagement und Verbandsführer und diversen Einsatzerfahrungen bei großen, teilweise auch kritischen Sanitätsdiensten dachte ich mir, dass ich mich genau für solche Lagen mit viel Fleiß und Mühen vorbereitet habe. Anderseits ging mir auch der Gedanke durch den Kopf, dass sich mir eine solche Gelegenheit wohl nur einmal im Leben bietet. Von den Erfahrungen würde ich sicher noch lange zehren. So viel sei vorab gesagt, ich sollte recht behalten. Also sagte ich meinen Einsatz zu.
Am Montagfrüh hieß es dann zunächst die Arbeit zu organisieren. Glücklicherweise war die Folgewoche bei mir eh als Urlaub verplant. Daher wurden schnell Termine umgeplant und die Urlaubswoche spontan vorgezogen. Dabei traf ich großes Verständnis von allen Kolleginnen und Kollegen und jede Menge Zuspruch und gute Wünsche für den Einsatz. Unsere HR Business Partnerin schrieb auch nur kurz aus ihrem eigenen Urlaub, dass die Verschiebung in Ordnung geht und das Thema Freistellung/Lohnersatz dann nach meiner Einsatzrückkehr angegangenen werden kann. Vielen Dank an Vattenfall, das war simpel und unbürokratisch, genau das brauchte es in der Situation.
Schlussendlich machte im mich am Montagmittag gen Ahrtal auf den Weg. Dank eines flotten ASB-Fahrzeugs konnte ich die Fahrt mit einigen wohltuenden Pausen gut hinter mich bringen.

Ankunft in Bad Neuenahr-Ahrweiler: Die ersten Eindrücke
Bad Neuenahr-Ahrweiler ist tatsächlich das Tor zum Ahrtal. Im Tal wunderschöne Orte mit einer großartigen Altstadt. Die Berge und Hänge sind geprägt von Weinreben. Der Ahrwein ist toll. Mein persönlicher Favorit ist der Blanc de Noir vom Ahrweiler Winzerverein. Als ich im Frühjahr 2018 zum ersten Mal dort war, hat mir die deutsche Weinkönigin von 1962 in der Weinstube ihrer Tochter diesen leckeren Tropfen nähergebracht. Vor ein paar Tagen hatte ich Luftbilder von der überfluteten Altstadt gesehen, wie es wohl dieser kleinen Weinstube gehen mochte?
In meinem Einsatzauftrag stand, dass ich mich zur BABZ begeben soll. Welch Glück im Unglück. Die BABZ hat ein eigenes Seminargebäude mit mehreren Räumen zur Schulung von Krisenstäben. Die Infrastruktur würde es hergeben, allerdings mit den Dimensionen vor Ort hatte ich nicht gerechnet. Die Wegführung via Google-Maps war diesmal etwas anders als bei meinen sonstigen Besuchen. Kein Wunder, bis auf eine Brücke waren alle Brücken, die über die Ahr führten, zerstört. Besonders auffällig war, dass ein permanenter Staub in der Luft hing. Als ich dann die Brücke überquerte, überraschte mich der Anblick nicht sonderlich. Aufgrund meiner Erfahrungen 2002 war ich auf die Bilder gefasst, allerdings ist Bad Neuenahr-Ahrweiler auch eher Ausläufer des Ahrtals. Dennoch sprachen die Bilder eine deutliche Sprache, mit welcher Wucht und Gewalt die Ahr vor nicht ganz zwei Wochen hier durchgerauscht war.

Gegen 21:00 war ich dann an der BABZ im Stab Gesundheit angekommen. Stefan vom ASB Rheinland-Pfalz war Leiter des Stabes, außerdem traf ich Jürgen wieder, der die Leitung von S1 Personal/innerer Dienst übernommen hatte. Der Rest waren neue Kolleginnen und Kollegen von den Maltesern und vom Deutschen Roten Kreuz, die ich kennenlernen durfte. Schnell wurde festgelegt, dass ich ab dem nächsten Tag in der Frühschicht das Sachgebiet S2 Lage übernommen sollte. Ich ließ mich noch am Abend vom diensthabenden S2er in die Arbeit einweisen. Zunächst musste ich schlucken, wir waren für die gesamten „weißen Kräfte“ im Einsatz verantwortlich. Über 800 Einsatzkräfte in 6 Einsatzabschnitten und in Summe ca. 25 Untereinsatzabschnitten. Was für eine Hausnummer.
Leider waren alle Zimmer in den Gästehäusern in der BABZ belegt. Teilweise noch durch Betroffene. Somit bekam ich im 60 km entfernten Bad Honnef ein Hotelzimmer für die nächsten Nächte. Also nochmal eine Stunde Fahrt. Um 23:00 traf ich dort ein, lernte Felix und Benny vom ASB Ulm kennen, die ab Dienstag ebenfalls mit mir in der Tagesschicht Dienst tun sollten. Schnell auf das Zimmer, ein paar Nachrichten nach Hause schreiben und versuchen so schnell wie möglich ins Bett zu kommen. Der Wecker sollte in den nächsten Tagen nicht mein Freund werden.

Tag 1 (Dienstag, 27.07.21): Neuer Biorhythmus und in die Lage reinkommen
Durch die Corona-Pandemie arbeite ich seit über anderthalb Jahren vorrangig von zu Hause aus. Ich habe mir den Luxus angewöhnt, dann aufzustehen, wenn ich ausgeschlafen habe. Das empfinde ich als zutiefst angenehm und trägt sehr zu meinem Wohlbefinden ein. Jetzt klingelt der Wecker um 05:00. Es ist furchtbar. Mit gefühlt viel zu wenig Schlaf, geht es unter die Dusche. Die Einsatzsachen werden schnell angezogen und noch vor 06:00 fahre ich mit dem Auto los. In den Blaulichtorganisationen gehört es zum guten Ton, dass man min. 15 Minuten vor Schichtübergabe vor Ort ist. Frühstück gibt es im Hotel eh nicht. Wenigstens habe ich noch einen Cold Brew Coffee in der Kühlbox im Auto. Ich komme pünktlich an und lasse mich von meinem Vorgänger Stefan einweisen. Um 07:00 versammeln sich die Nachtschicht und die Tagesschicht zur Übergabe. Schwerpunkte sollen die Personalplanung sein. Es muss sichergestellt werden, dass abrückende Kontingente rechtzeitig abgelöst werden. Die diensthabende LNA stellt in Aussicht, dass es Ziel sein sollte, dass sich unser Stab zum Wochenende hin auflöst. Na, mal schauen, ob wir das schaffen werden.
Zunächst versuche ich mir selbst ein umfassendes Lagebild zu machen. Welche Einsatzabschnitte laufen gut, wo gibt es Probleme? Außerdem liegt das Einsatztagebuch in meiner Verantwortung. Wir arbeiten hauptsächlich mit E-Mail, gar nicht so schlecht wie ich finde. Der Vierfachvordruck ist mir häufig eher ein Graus. Häufig genug kann man ihn nicht lesen, weil er handschriftlich verfasst ist, man hat keine Suchfunktion nach Schlagwörtern und wer behauptet, er oder sie könnte mehr als vier Vordrucke im Sinne eines Ticketsystems noch adäquat händeln, dem glaube ich schlicht nicht. Im Laufe des Tages merke ich aber schnell, dass S2 richtig knackig ist. Allein die schiere E-Mail-Flut ist heftig. Der Sichter leitet natürlich alles auch an S2 weiter. So soll es sein. Ich muss jede Information bekommen, um zu prüfen, ob sie für das Lagebild relevant sind. An Spitzentagen waren es im Übrigen über 200 E-Mails und das meiste halt in der Tagesschicht. Im 4-Stunden-Rhythmus finden Lagebesprechungen statt. S2 protokolliert diese grundsätzlich auch – der Aufgabenberg er wächst stetig. Am Vormittag treffen die Berichte aus den Einsatzabschnitten ein. Jeder ist einzigartig in Form und Inhalt. Kein Wunder … die Lageberichte werden von Menschen geschrieben. Auf jeden Fall ist es zum Teil echt mühselig, die wirklich wichtigen Informationen herauszuziehen. Wir sollen strategisch unterwegs sein. Wenn wir mit Mikromanagement anfangen, haben wir verloren.
Benny und Felix vom ASB Ulm haben im Übrigen die Sachgebiete S1 Personal/Innerer Dienst und S4 Versorgung übernommen. Auch echt knackige Aufgaben, denke ich mir, während ich die nächste E-Mail öffne und entscheide, ob die Information wichtig genug für das Einsatztagebuch ist. Das Einsatztagebuch führen wir in Excel. Finde ich völlig in Ordnung. Die angebliche bessere Rechtssicherheit von Einsatztagebüchern in speziellen Softwarelösungen bezweifle ich im Übrigen. Das Einsatztagebuch ist meine Dokumentation und keine objektive Bewertung von neutraler oder gar richterlicher Stelle. Aber zu dumm, dass wir nicht in einer Cloud arbeiten, sondern die Dokumente auf einem Netzlaufwerk haben. So kann doch nur einer gleichzeitig dran arbeiten. Da merkt man mal, wie schnell man sich an Vorzüge wie Cloud usw. gewöhnt hat. Beim CSD vor drei Tagen, haben wir mehrere Einsatztagebücher in der Cloud geführt und konnten uns so gegenseitig informiert halten.
Nach 12 Stunden ist die erste Schicht zu Ende. Felix und Benny fahren bei mir mit. In Bad Honnef gehen wir noch schnell einen Teller Pasta essen und dann ab ins Bett.

Tag 2 (Mi, 28.07.21): Wir rennen der Lage immer noch hinterher.
Erneut klingelt der Wecker um diese unangenehme Uhrzeit. Aber irgendwie geht es und pünktlich zum Schichtwechsel sind wir erneut im Stabsraum eingetroffen.

Das Ziel jedes Führungsstabes muss es sein, dass er sich auflöst. Wir wollen aus der Katastrophenlage raus und die Hilfeleistung in Regel- oder zumindest in Interimsstrukturen überführen. Dazu müssen wir das Lagebild vervollständigen. Wir erhalten jede Menge Einzelinformationen aus den Einsatzabschnitten, aber das richtige Gefühl für die Lage haben wir noch nicht entwickelt. Die wichtigsten Lageberichte aus den Einsatzabschnitten drucke ich mir aus, um sie schnell quer zu lesen. Zwischendurch prüfe ich noch den Wetterbericht des DWD – glücklicherweise keine unmittelbaren Wettergefahren heute.
In unseren internen Stabsbesprechungen, die wir alle vier Stunden abhalten, bekommen wir einen kurzen Input aus der TEL, danach berichten wir als Sachgebietsleiter. Es ist immer noch sehr schwierig zu erfassen, wo konkret Einheiten im Einsatz sind. Erkundungen ergeben, dass an bestimmten Einsatzstellen Einheiten anwesend sind, die bislang den Einsatzabschnitten nicht unterstellt waren. So findet man in einem Einsatzabschnitt eine größere Einheit, mit rund 50 Kräften, die täglich 1.000 Portionen Essen zubereiten.
Gegen Mittag erreichen wir einen kritischen Punkt, wir wissen, dass wir Informationen aus den Einsatzabschnitten benötigen, um auch rechtzeitig für Ablösungen zu sorgen. Überörtliche Hilfeleistungen brauchen Zeit. Man kann nicht wie in SEG-Alarmen auf den Knopf drücken und nach spätestens zwei Stunden läuft der Alarm. Mindestens 48 Stunden Vorlauf muss man einrechnen. Die Diskussion im Stab schaukelt sich plötzlich hoch. Man müsse den Einsatzabschnittsleitungen mehr Druck machen, mehr Daten einfordern, detailliertere Formulare erstellen. Glücklicherweise interveniert Dietmar. Dietmar ist Fachberater PSNV in unserem Stab. Mit einer ruhigen und sehr menschlichen Art weist er uns darauf hin, dass wir, wenn wir in dem Ton, mit den EAL umgehen, wir die Menschen verlieren. Diese Intervention war so wichtig. Einsätze können an solchen kritischen Punkten echt scheitern. Glücklicherweise nehmen wir den Hinweis als Stab an. Etwas später bedanke ich mich persönlich bei Dietmar. Meiner Meinung nach war es das wichtigste Feedback in diesem Stab während meiner Zeit dort.
Mittlerweile treffen neue Kräfte für den Stab ein. Olli, Manuel und Klaus-Dieter werden kurzerhand zur Verbindungsaufnahme in die Einsatzabschnitte geschickt, da die Stabsfunktionen alle schon besetzt sind. Derweil verzweifelt Felix im S4 Sachgebiet. Es mehren sich die Meldungen, dass die Dixies nicht entleert werden. Die Verpflegungssituation spitzt sich zu, die kochenden Einheiten haben immer noch keine richtigen Kostenübernahmen, die eigenen Kreditkarten stoßen an ihr Limit. Kann das echt sein, dass wir nicht in der Lage sind, elementare Grundbedürfnisse der Menschen, wie Essen & Toilettengänge sicherzustellen. Die Situation frustriert alle. Aber wir wollen dennoch nicht aufgeben.
Für den Abend wurde eine Schweigeminute angesetzt. Zwischen 19:50 und 20:00 soll die Arbeit ruhen. Normalerweise dauern Schweigeminuten die üblichen 30 Sekunden. Hier jedoch nicht. Alle lassen die Arbeit ruhen und erheben sich von ihren Plätzen und schweigen. Zehn Minuten lang. Auf dem Berg der BABZ ist es mucksmäuschenstill. Es ist schlicht beeindruckend, es ist bewegend, es ist berührend.

Tag 3 (Do, 29.07.21): Es geht voran und erschütternde Eindrücke im Tal
Die Nacht war nicht wirklich erholsam. Die Situation um die Toiletten und die Verpflegung stört mich zutiefst. Die Menschen haben alles verloren. Ein Teller warmes Essen am Abend nach der erschöpfenden Arbeit ist für mich ein Akt der Humanität der sein muss, der funktionieren muss. Gestern Abend gab es im Stab schon die Diskussion, dass das Sachgebiet S4 in der TEL sich die Verpflegung als zentrales Thema heranziehen soll.
Am Vormittag haben wir eine erste Telko mit den Einsatzabschnittsleitungen. Wir ahnen Schlimmes, dass wir die erste Zeit mit Schimpf und Schande belegt werden. Ich könnte es auch verstehen. Insb. die Einsatzabschnitte stehen unter immensen Druck. Sie bekommen unmittelbar das Feedback von der Bevölkerung. Doch wir sind überrascht. Die Telefonkonferenz ist erstaunlich sachlich und von gegenseitigem Respekt und von Wertschätzung geprägt. Wir vereinbaren diese Telefonkonferenzen ab sofort täglich durchzuführen.
Heute im Stab bekomme ich mehr Unterstützung. Klaus-Dieter unterstützt mich und im Tagesverlauf kommt Oli noch dazu. Das ist eine Wohltat. Klaus-Dieter sichtet das E-Mail-Postfach und Oli schreibt das Einsatztagebuch. Somit bekomme ich eine Vorfilterung und muss nur noch die wichtigen/relevanten E-Mails lesen. Das hilft mir sehr, ich kann mich auf die wesentlichen Themen konzentrieren und bekomme mehr und mehr ein Gefühl dafür was draußen los ist. Manuel, der gestern angekommen ist, unterstütz ab sofort im Sachgebiet S1. Im Laufe des Tages finden die ersten Abstimmungen zwischen unserem Stab und der TEL statt, um das Verpflegungsthema zu lösen.
Der Einsatzabschnitt 1 entwickelt sich auch weiter zum Sorgenkind. Aus einem Lagebericht höre ich, dass 60-70 % aller Häuser beschädigt sind. In der digitalen Lagekarte sehe ich außerdem, dass ein Großteil der Straßen zerstört ist. Die Lagekarte ist sogar mit Luftaufnahmen gefüllt. Wenn man dicht heranscrollt, sieht man, wie übel es ist. Man erkennt Hausdächer und rundherum eigentlich nur eine matschbraune Fläche. Am Nachmittag knallt es im Einsatzabschnitt schon wieder. Aus Brück und Ahrbrück wird gemeldet, dass Verpflegung und insb. die Toiletten noch nicht funktionieren und es an Unterkünften mangelt. Ich gehe rüber zum Verwaltungsstab und zeige ihnen den Lagebericht. Die Mitarbeiter:innen der Kreisverwaltung sind ebenfalls erschüttert und kümmern sich drum.
Am Mittag treffen Rouven und Stefan von den Maltesern aus Berlin ein. Es ist schön, bekannte Gesichter zu sehen. Sie gucken sich in Ruhe an, was bei uns so läuft und wie die Prozesse gestaltet sind. Schnell wird klar, dass beide in der Nachschicht zum Einsatz kommen. Wir empfehlen ihnen dringend, nochmal ins Hotel zu fahren und sich eine Mütze Schlaf zu holen. Pünktlich zur Schichtübergabe sind sie wieder da. Rouven übernimmt in der Nacht mein Sachgebiet S2 Lage. Ich bin erleichtert, diese Aufgabe in guten Händen zu wissen.
Für das Dienstende habe ich mit Benny und Felix vereinbart, dass wir in die Altstadt runterfahren. Ich möchte endlich sehen, wie es tatsächlich aussieht. Wir parken unser Fahrzeug am Rande der Altstadt gegenüber vom Krankenhaus. Die Klinik soll bestenfalls schon nächste Woche wieder in Betrieb gehen, ob das funktionieren wird, erscheint mir fraglich. Anhand der Schmutzränder sehen wir, dass das Wasser gut und gerne anderthalb Meter im Erdgeschoss stand. Wir gehen bedächtigen Schrittes durch die Altstadt. Wir treffen auf wenige Menschen, die immer noch arbeiten. Ansonsten ist es menschenleer. Es ist skurril, die Erdgeschosse aller Häuser sind komplett leergeräumt. Schaut man kurz nach oben, sieht man ab dem ersten bzw. zweiten OG eine heile Welt und im Hintergrund die idyllischen Weinberge. Wir erreichen die Weinstube Steinfeld, in der ich gerne bei meinen bisherigen Besuchen verweilte. Die kleine Stube ist komplett leergeräumt. Lediglich die massiven Holztische im Gastraum, haben es scheinbar geschafft. Von den Betreibern treffe ich Niemanden an. Ich hoffe, dass sie es alle geschafft haben. Eindrücklich ist der Geruch in der Stadt. Eine Mischung aus schlammigem, sumpfigem Geruch, als ob man durch einen Bau geht, der noch trocknen muss. Daneben noch einige andere Gerüche – vermutlich das Abwasser und Heizöl. Außerdem ist es sehr staubig in der Altstadt. Wir verlassen die Altstadt am Ahrtor und gehen nach vorne zur Brücke. Also zur Abbruchkante – die Brücke ist weg. In ihrem Flussbett plätschert die Ahr vor sich hin – eigentlich ein friedlicher und beschaulicher Bach. Neben der Feuerwache, von der die Hälfte weggerissen ist, packt es uns richtig. Wir sehen den Friedhof von Bad Neuenahr-Ahrweiler. Der Friedhof ist ebenfalls von Schlamm bedeckt. Es stehen noch wenige Grabsteine, viele liegen zerbrochen im Staub. An einer Stelle steckt mitten im Schutt ein improvisiertes Kreuz mit Kabelrasterbändern und aus zwei Stahlrohren gebastelt. Wir schlucken und halten einen Moment inne. Im Schutt liegen viele zerbrochene Grabsteine.

Tag 4 (Fr, 30.07.21) Wir kommen vor die Lage und im EA 1 kracht es erneut
Die Nacht habe ich deutlich besser geschlafen und fühle mich fast schon erholt. Bei der Übergabe müssen wir jedoch eine bittere Pille schlucken. Im Einsatzabschnitt 1 – ausgerechnet der EA, der am übelsten betroffen ist – haben wir heute eine massive Unterdeckung an weißen Kräften. Ein Hilfeleistungskontingent ist bereits abgerückt, jedoch trifft die Ablösung 24 Stunden später ein, als eigentlich benötigt.
Heute ist Dennis als LNA im Dienst mit sehr ruhiger und besonnener Art setzt er die Schwerpunkte für die Arbeit heute. Wir wollen am Krisenaustritt arbeiten. Das Thema Verpflegung wird heute zentral durch eine Arbeitsgruppe aus unserem Stab und der TEL bearbeitet. Die Toilettensituation scheint sich zunehmend verbessert zu haben.
Manuel ist im Bereich S1 tätig, er führt tolle Telefonate mit Einsatzabschnitten sehr empathisch und geduldig, fragt er zunächst, wie es den Leuten persönlich geht. Er erklärt wunderbar, wie die Arbeit hier im Stab läuft. Kurzum, er begegnet den Leuten auf Augenhöhe. Im Bereich S4 verbessert sich die Situation mit den Kostenübernahmen, außerdem arbeitet die S4er der TEL an einem neuen Logistikkonzept, es zeichnet sich ab, dass wir unsere S4-Funktion alsbald auflösen können. Oli und Klaus-Dieter unterstützen mich wieder im Bereich S2 Lage. Endlich komme ich dazu eine Prognose zu erarbeiten. Dazu hilft mir der sehr gute Lagebericht aus der TEL. Bei einem Satz muss ich schlucken. „80-90 % der betroffenen Häuser im Einsatzabschnitt 1müssen zeitnah abgerissen werden.“ Gestern hieß es noch, dass 60-70% der Häuser im EA 1 beschädigt sind. Kurzum 50% der Menschen werden ihr zu Hause verlieren. Nicht im Sinne von sie müssen umziehen. Sie verlieren alles, nicht mal mehr Fotoalben bleiben ihnen als Erinnerung. Am Nachmittag stelle ich in einer internen Stabsbesprechung die Lageprognose vor. Unser LNA ist sehr zufrieden und nimmt die Powerpointfolie mit in die TEL. Endlich geht es voran.
Trotz allem bereitet uns der EA 1 wieder Probleme. Durch die Unterdeckung an Kräften kommt es immer wieder zu Mangelsituationen in der sanitätsdienstlichen Versorgung. Es ist wie bei Großveranstaltungen, dort wo am wenigsten Kräfte sind, tauchen plötzlich die meisten Patienten auf. Es ist auch klar, dass sind keine normalen Baustellen, die gut gesichert sind. Die Menschen dort arbeiten in einem Schadensgebiet, im Gefahrenbereich und gerade die Spontanhelfer:innen und die Privatpersonen haben nicht unbedingt die PSA, die es brauchen würde. Daher die vielen Bagatellverletzungen. Schon jetzt ist klar, EA 1 wird das Krisenmanagement hier noch über Wochen beschäftigen.
Ich erhalte einen Anruf von Gwen. Mit Gwen habe ich zusammen Sicherheitsmanagement studiert, sie war selbst schon häufig für Stabstrainings an der BABZ. Ich berichte ihr von meinen Eindrücken. Es tut gut, mit jemanden zu sprechen, die sich in die Aufgabe reinversetzen kann.
Am Abend übergeben wir wieder an die Nachtschicht. Felix und Benny verabschieden sich aus dem Stab. Sie fahren nach Dienstende zurück nach Ulm. Außerdem scheidet Manuel aus dem Bereich S3 aus. Wir haben uns angewöhnt, die Stabsmitglieder mit Applaus zu verabschieden. Man merkt, wie in kurzer Zeit ein großartiges Team zusammengewachsen ist. Dietmar unser Fachberater PSNV hat auch erstmal Einsatzende, er spricht wieder ein paar bewegende Worte. Dietmar war in der Tat ein wohltuender und zutiefst menschlicher Ruhepol in unserem Stab.

Tag 5 (Sa, 31.07.21) Mein letzter Tag im Stab, wir arbeiten am Krisenaustritt
Die Nacht war wieder deutlich erholsamer. Offensichtlich merkt der Körper, dass unsere Arbeit positiv heranschreitet. Ich vermisse Felix und Benny, die in der Nacht noch gemeldet haben, dass sie gut in Ulm angekommen sind. Heute wollen wir ein ordentliches Stück vorankommen, fast die gesamte Tagesdienstbesetzung des Stabes hat heute ihren letzten Einsatz. Wir verschlanken den S2-Bereich etwas. Oliver übernimmt S3. Klaus-Dieter unterstützt mich weiterhin in S2 und ist meine Stütze durch die Vorsichtung der E-Mails. Der Austausch mit dem FB Gesundheit/PSNV aus der TEL wird auch immer besser. Das Thema Verpflegung ist nun tatsächlich beim S4 der TEL. Ab nächster Woche soll die Verpflegung durch privatrechtliche Verträge geregelt werden. Das DRK-Generealsekretariat baut auf dem Gelände der Haribo-Fabrik, die man vom Berg der BABZ sehen kann, große Küchen mit einer Kapazität von 10.000 Portionen auf.
Nach der morgendlichen Telko mit den Einsatzabschnittsleitungen stecken Manuel (S1), Oliver (S3) und ich die Köpfe zusammen. Wir wollen heute am Krisenaustritt arbeiten. Schnell drucken wir noch die letzten Lageberichte und die Meldungen aus den Einsatzabschnitten und dann legen wir los. Über mehrere Stunden arbeiten wir uns durch die Einsatzabschnitte und kreieren konkrete Szenarien, welche Hilfeleistungsangebote reduziert werden können, wo wird welche Hilfe mit welchem Kräfteansatz über welche Dauer noch weiter benötigt. Wir kommen gut voran. Generell ist der Tag auch ruhiger. Wir können sogar entspannt Mittagessen gehen. Die ersten Tage haben wir noch am Arbeitsplatz gegessen. Heute essen wir in Ruhe eine leckere Pasta mit Bolognese Sauce und zum Nachtisch gibt es Pudding und Wassermelone. Florian, unser Leiter des Stabes, checkt unseren Entwurf und ist zufrieden mit unserer Arbeit. Wir machen weiter und wollen unseren Vorschlag mit den wichtigsten Stakeholdern vorabstimmen. Insb. das Meinungsbild und die Einschätzung der Einsatzabschnittsleitungen ist uns wichtig. Oliver bringt jedoch einen wichtigen Einwurf, dass wir unser Konzept besser nicht versenden, wer weiß wer das ausdruckt und womöglich an die Wand hängt. Wir wissen, dass die politischen Entscheidungsträger noch überzeugt werden müssen. Also macht sich Manuel mit seiner empathischen Art ran an das Telefon und telefoniert mit den meisten EAL und validiert unsere Einschätzung mit deren Lagebild vor Ort.
Am Nachmittag können wir Heiko, der ab sofort dauerhaft als OrgL tätig sein wird, unser Konzept zum Krisenaustritt vorstellen. Er ist sehr zufrieden mit unserer Arbeit und unsere Vorschläge decken sich mit der großen Strategie. Jetzt warten wir noch auf das Feedback vom LNA und vom OrgL die gerade zur Erkundung im Einsatzabschnitt 1 unterwegs sind. Derweil stellt sich bei mir mehr und mehr das Gefühl ein, dass ich guten Gewissens heute Abend außer Dienst gehen kann. Ich weiß zwar, dass der Einsatz weiterlaufen wird, aber ich persönlich kann natürlich nicht bis zum Ende der Lage hier bleiben. Es gibt mittlerweile auch ein Konzept, wie unser Stab reduziert und schlussendlich an die TEL übergeben wird. Ich sagte es bereits, das Ziel jeden Stabes muss es sein, sich aufzulösen.
Es bleibt zwischendurch immer mehr Zeit für kurze Gespräche und Reflexionen. Bianca ist heute FB PSNV. Am Nachmittag sieht sie sehr erschöpft aus. Ich gehe kurz zu ihr und frage, wie es ihr geht. Bianca ist tatsächlich schon seit Anfang des Ereignisses im Einsatz. Sie freut sich darauf, heute nach Hause zu fahren. Ich kann sie gut verstehen. Wir sprechen kurz miteinander und ich sage, wie großartig ich die Arbeit der PSNV in diesem Einsatz finde. Dass die Leistung aller ehrenwert ist und wie gut ich es finde, dass PSNV-B wie auch PSNV-E immer mehr selbstverständlich wird und dass entsprechende Fachberater in den Stäben mit fest gesetzt sind.
Am Nachmittag kommen der LNA und Klaus der zweite OrgL aus dem Einsatzabschnitt 1 von ihrer Erkundung zurück. Klaus ist sichtlich erschüttert und bezeichnet den Einsatzabschnitt als Kriegsgebiet. Sämtliche Infrastruktur ist kaputt. Die Straßen sind nur langsam befahrbar, manche immer noch nicht. Ich schaue derweil in die digitale Lagekarte. Die IT-Cracks haben neue Karten gebastelt. Altenahr erschüttert mich. Ich sehe nur rote Punkte um die Ahr herum. Alle Häuser dort sind zerstört. Auf einer zweiten Seite sind in Balkendiagrammen die beschädigten und zerstörten Häuser dargestellt. Ich zähle kurz zusammen und komme auf rd. 700 Häuser. Nehmen wir mal ca. 3-4 Personen pro Haushalt an, kommen wir auf 2.000 bis 3.000 Personen, die unmittelbar ihr Haus verloren haben und die eine mittelfristige Unterkunft benötigen. Wir gleichen das Erkundungsbild mit unserem Krisenaustrittsszenario ab. Eigentlich liegen wir dicht beieinander. Der Aufbau einer medizinischen Basisversorgung und die Sicherstellung eines rettungsdienstlichen Grundschutzes werden für die nächste Woche relevant sein. Am Montag soll ein Gespräch mit der kassenärztlichen Vereinigung stattfinden. Aber das wird nicht mehr unser Job sein.
Gegen 19:00 treten wir wieder zusammen zur letzten Schichtübergabe. Heiko unser OrgL bedankt sich sehr für unsere Arbeit. Florian unser Leiter des Stabes hat ebenfalls seinen letzten Dienst. Der geflügelte Satz ist heute „Es war mir eine Ehre.“ Ordentlich übergeben wir unsere Sachgebiete an die Nachtschicht. Wir tauschen Kontaktdaten aus und dann fahre ich zum letzten Mal für diesen Einsatz vom Gelände der BABZ.
Eigentlich bin ich mit Max vom ASB-Bundesverband in Köln verabredet. Netterweise hat man es mir ermöglicht im Gästehaus vom Bildungswerk zu übernachten. Das ist sehr angenehm, somit ist die Reise nach Berlin am nächsten Tag etwas kürzer. Zuvor fahre ich kurz in den Einsatzabschnitt 4 nach Sinzig. Dort sind Samariter:innen aus Thüringen, genauer gesagt aus Gera, im Einsatz, die ich gut kenne. Ich freue mich riesig, die Jungs und Mädels zu sehen. Sie berichten mir kurz, was sie direkt vor Ort erlebt haben. Nach einer halben Stunde und einem schnellen Radler fahre ich weiter nach Köln. Max und ich gehen vor Ort noch eine Pizza essen. Schon komisch in Köln wirkt alles entspannt, wir sind weit weg vom Katastrophengebiet. Nach einer erholsamen Nacht fahre ich zurück nach Berlin und bin am Sonntagnachmittag wohl behalten wieder zu Hause.

Nachbetrachtungen
Soweit mein chronologischer Abriss der Tage. Da ich mich seit Jahren mit Krisenmanagement beschäftige und die Krisenstabsarbeit Schwerpunkt meiner Masterarbeit war, habe ich versucht zwischendurch immer mal wieder eine Beobachterperspektive einzunehmen. Ich kann sagen, dass ich in dieser Woche Erfahrungen gesammelt habe, die ich vermutlich in zehn Stabsrahmenübungen nicht hätte machen können. Diese Erfahrungen & Erkenntnisse möchte ich nachfolgend als Thesen teilen. Sie haben keinen Anspruch auf Vollständigkeit, Allgemeingültigkeit oder Absolutheit und ich lade alle Personen ein, sie zu diskutieren.

Erkenntnis: Performance Management in Krisenstäben
Den geneigten Lesenden erzähle ich nichts Neues. Stabsarbeit ist die Arbeit in einem Hochperformanceteam. Wir stehen, wie auch die Einsatzkräfte unter permanenten Druck und es wird 12 Stunden Höchstleistung von uns erwartet. Jede Person, die sich mit Leistungskurven auskennt, weiß, dass dies nur schwer möglich ist, schon gar nicht mehrere Tage hintereinander. Ich habe bei mir selbst am zweiten Tag zeitweise typische Vermeidungsstrategien beobachtet. Beispiel ich lese zwei E-Mails. Die erste ist die wichtigere, aber komplizierter zu lesen und zu bewerten, mir raucht der Kopf. Schnell schweift mein Blick zur nächsten E-Mail und ich denke, wie schön etwas Einfaches, wenn auch weniger Wichtiges. Ist nur ein schneller Eintrag im Einsatztagebuch. Das mache ich, das kann ich. Ich entdecke eine dritte Mail, die auch einfach, schnell zu bearbeiten aber auch weniger wichtig ist. Dieses Verhalten ist in Überlastungssituationen typisch, aber hochgefährlich, weil die kritischen Probleme, um die man sich kümmern muss, nach hinten geschoben werden. Mir persönlich hat insb. ab dem dritten Tag die zusätzliche personelle Unterstützung im Sachgebiet geholfen. Aber ganz ehrlich, was, wenn das keiner mitbekommen hätte? Unser Leiter des Stabes stand unter ähnlichem Druck wie wir. Was, wenn alle Funktionen in einem Stab es nicht mitbekommen, weil sie von der Lage vereinnahmt sind?
Ich glaube es ist lohnend, darüber nachzudenken eine zusätzliche Funktion im Stab zu schaffen. Da ich in einem internationalen Unternehmen arbeite, kommen mir sofort Begriffe wie Performance oder Wellbeing Manager in den Sinn. Was ich damit meine: eine Person/Funktion, die sich nicht um die Lage oder das Einsatzgeschehen kümmert, sondern einfach darauf achtet, ob die im Stab tätigen Personen noch funktionieren und ihre Leistung erbringen können und ggf. einschreitet und die handelnden Personen notfalls zur Pause verdonnert. Gerade bei längeren Stabslagen erscheint mir das eine notwendige Funktion im Sinne einer Risikominderung zu sein.

Jede Funktion ist wichtig
Ich erlebe manchmal Diskussionen über die Wichtigkeit und Weniger-Wichtigkeit von Funktionen im Stab. Aus den Erfahrungen meiner 5 Tage im Stab will ich ganz klar bestätigen, jede Funktion ist wichtig und unerlässlich. Stabsarbeit ist Teamerfolg wie auch Teamversagen zugleich. In Übungen begegnet man häufig der Situation, dass die Sichtungsfunktion oder die Führung des Einsatztagebuchs schnell an irgendwen übertragen wird. Diese Funktionen sollte man niemals unterschätzen. Gerade die Sichtung ist die Garantie dafür, dass die Information bei den richtigen Stabsgebieten ankommt. Klar geht jede Information immer an S2, aber wenn sich S2 auf die Sichtung verlassen kann, entspannt das die Arbeit ungemein. Und ein gut geführtes Einsatztagebuch mit Suchfunktionen ist in meinen Augen eh unerlässlich.

Das Dogma der DV 100
Zuerst möchte ich sagen, dass ich großer Fan der DV 100 bin. Sie gibt uns eine allgemein anerkannte Struktur in Führungsstäben und jede Person weiß, welche Aufgaben die Stabsfunktionen innehaben. Allerdings birgt die klare Abgrenzung der Stabsfunktionen auch ein Risiko. Häufig erlebe ich Diskussionen wie „Das ist ein S4-Problem.“, „Darum müssen sich die S1er kümmern.“ Puristen der Stabsarbeit mag ich evtl. gegen mich aufbringen, aber ich bin überzeugt, dass wir trotz der klaren Aufgabengebiete auch in Stäben in der Lage sein müssen bzw. es muss erlaubt sein, dass wir Strukturen aufbrechen und für komplexe Probleme stabs- und sachgebietsübergreifend Personen zusammenbringen müssen. Unser Verpflegungsproblem wurde erst besser, nach dem man eine Arbeitsgruppe der S1er und S4er aus unserem Stab und dem TEL-Stab bildete. Daher mein Appell, dass wir häufiger den Mut haben sollten, die Struktur anlassbezogen zu verlassen und in diese nach der Lösung oder zumindest nach der Weichenstellung zurückzukehren.

Empathie vor Hierarchie
Ich hatte schon von Manuel und seinem guten Umgang mit unseren untergeordneten Einsatzabschnittsleitern berichtet. Auch wenn in Stäben die Hierarchien sehr eindeutig und geradlinig sind, Empathie im Umgang mit allen Beteiligten ist für mich der Schlüsselfaktor zum Erfolg. Wenn man trotz einer disziplinarischen Unterstellung den handelnden Personen auf Augenhöhe begegnet, als übergeordneter Stab auch in der Lage ist, Fehler einzuräumen und Hintergründe der Einsatzaufträge erklärt, gewinnt man die Einsatzmannschaften für sich. Mir ist klar, solche Gespräche kosten Zeit, die in Akutlagen nicht immer gegeben ist. Ich möchte dennoch empfehlen, sobald es geht, diese Zeit zu investieren. Sie ist auf keinen Fall vergeudet, ganz im Gegenteil … sie ist gut investiert in den gemeinsamen Einsatzerfolg.

Positive Fehlerkultur & Wertschätzung
Wie man schon zuvor lesen konnte, haben die Human Factors auch in unserem Stab voll zugeschlagen. Kein Wunder, mit viel zu wenig Schlaf und Entspannungspausen, versuchten wir auf höchstem Leistungsniveau vor eine komplexe Einsatzlage zu kommen. Was mich an unserem Stab nachhaltig beeindruckt hat, war die sehr positive Fehlerkultur. Ohne dass es je laut ausgesprochen wurde, war es völlig in Ordnung, wenn man bei vermeintlichen oder ersichtlichen Fehlern intervenierte. Derlei Ansprachen wurden stets sehr sachlich, ruhig und hochempathisch vorgetragen. Auch an einer Entschuldigung, wenn man ein Gespräch evtl. störte oder sich schlicht geirrt hatte, mangelte es nie. Das alles fand in einem Team statt, welches vorher noch nie zusammengearbeitet oder geübt hatte. Dies spricht meines Erachtens nach in erster Linie für die Menschen, die in diesem Stab tätig waren, die jeder Person mit einer unglaublichen Wertschätzung begegneten. Wir haben uns so – völlig unausgesprochen – ein sehr positives Shared Mental Modell geschaffen, welches uns gut durch die Tage geleitet hat. Daher möchte ich allen nachfolgenden Stäben empfehlen, bewahrt Euch eine positive Fehlerkultur, geht in der Grundannahme ran, dass Eure Gegenüber auch etwas Gutes leisten wollen. Habt dennoch den Mut, bei Fehlern zu intervenieren und seid, wenn ihr es tut ruhig, sachlich und wertschätzend. Und wenn ihr selbst Feedback erhaltet, hört es ruhig und bewertet es nach dem Maßstab, dass Euer Gegenüber ein Interesse hat, dass ihr Eure Arbeit noch besser macht.

PSNV-E ist wichtig und gehört zur mentalen Gesundheit
Die Leistung der Psychosozialen Notfallversorgung für die Betroffenen hat mich schlicht beeindruckt. Teilweise waren gut 100 Notfallseelsorger:innen und PSNV-Kräfte im Einsatz. Ich finde es gut und richtig, dass viele Angebote gemacht werden. Genau so wichtig ist auch die PSNV für die Einsatzkräfte – die sogenannte Einsatznachsorge. Ich für meinen Teil habe bereits ein Gesprächstermin mit unserer Einsatznachsorge vereinbart. Ich bin überzeugt, es ist gut und wichtig für die mentale Gesundheit, mit fachlich versierten Menschen, die Erlebnisse aus dem Einsatz aufzuarbeiten-

Abschlussworte
Liebe Leser:innen, vielen Dank für ihre Aufmerksamkeit. Es war jede Menge Text. Das Niederschreiben der Erlebnisse – und ich habe so einiges weggelassen – hat mir selber gutgetan und ist Teil meiner persönlichen Nachbereitung des Einsatzes. Ich bin dankbar, dass ich helfen konnte. Meine Gedanken sind bei den Menschen in den betroffenen Katastrophengebieten. Ich wünsche Ihnen, dass sie den Schock und die Trauer überwinden können und hoffentlich bald wieder eine wohltuende Normalität einkehrt. Im November bin ich voraussichtlich zu einem Seminar an der BABZ, ich bin gespannt, wie ich das Ahrtal dann vorfinden werde.

Boris Michalowski