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Helfer:innen der Berliner Hilfsorganisationen gehen auf Kameramann zu.

Zwischen den Kontrasten – Sarah Korst über ihren FAST-Einsatz in der Türkei

Eines, das mich am meisten bei meinem Einsatz in der Türkei überrascht hat, sind die Kontraste.

Unser FAST- Camp lag in der Stadt Samandag in der Hatay-Provinz. Wo vor dem 6. Februar 2023 noch über 120.000 Menschen lebten, ist heute nur noch ein Bruchteil der Bevölkerung zurückgeblieben. Die meisten der einstigen Häuser sind entweder durch die starken Beben nur noch Trümmerhaufen oder einsturzgefährdet und somit nicht mehr bewohnbar. Viele Menschen fürchten sich vor weiteren Beben. Zurecht. Auch während meines Einsatzes bebte unter uns noch täglich die Erde. Meist nur schwach, einmal sehr stark (6,4 auf der Richterskala). Ich kann bis jetzt nur ahnen, was diese Menschen durchgemacht haben müssen, die zwei noch viel stärkere Beben erlebt haben.

Tagsüber ging es in Samandag sehr geschäftig zu: Bagger fingen an, die Straßen vom Schutt weiter frei zu räumen. LKWs brachten Hilfslieferungen. Motorräder manovrierten sich durch die Verkehrsschlangen. Menschen liefen auf den Straßen, um ihre Habseligkeiten aus den Trümmern zusammenzutragen - mal mit Autos, mal mit Anhängern, einige nur mit Schubkarren. Nicht selten fragte ich mich, wie man in so schiefen Häusern überhaupt noch aufrecht gehen kann. Was würde ich mitnehmen, wenn ich wüsste, dass ich nur wenig Zeit hätte und meine Wohnung wahrscheinlich für immer verlassen müsste? Foto-Alben? Festplatten? Schmuck? Kleidung? Dokumente? Einmal sah ich eine Familie, die mithilfe eines Krans eine Waschmaschine aus dem 3. Stock auf einen Transporter herabsenken ließ.

Brauche ich Streichhölzer, um mir in den kalten Nächten im Zweifel selbst ein Feuer anzünden zu können? Ein Camping-Zelt? Oder verlasse ich mich darauf, eine Unterkunft mit staatlicher Hilfe gestellt zu bekommen? Wahrscheinlich sind es auch diese Fragen, die sich gerade jede Familie dort stellt, und auf die es keine richtige oder falsche Antwort gibt.

Nachts wiederum war es oft sehr still. Die Helikopter waren aus der Luft, die Autos von den Straßen und die Bagger von den Schuttbergen verschwunden. Ab und zu hörte man das Bellen der Straßenhunde oder einen Hahn, der einsam krähte. Stille: eine unübliche Erfahrung für eine Stadt.

Durch die fehlende Stromversorgung war die Stadt völlig dunkel und die Feuer einiger Menschen, die in Zelten draußen schliefen, die einzigen Lichter, die man nachts hier und da flackern sah. Bei gerade mal 3 Grad Celsius tat ein Feuer mehr als nur gut. Der Sternenhimmel, den man über der Stadt leuchten sah, war kaum in Worte zu fassen. In der Ferne sah man die schneebedeckten Spitzen des Amanos-Gebirge. Wie seltsam, dass Schönheit und Zerstörung doch so nah beieinander sein können.

Es gibt im Deutschen die Begriffe „Bodenständigkeit“ und „Erdung“. Eine Sache unterscheidet dabei einen geerdeten Menschen von einem bodenständigen Menschen: Das Gefühl von Sicherheit. Ein allgemein als bodenständig bezeichneter Mensch tut alles dafür, um sich sicher zu fühlen. Er ist sehr auf seine äußere Sicherheit aus und handelt bedacht. Er steht mit beiden Beinen auf dem Boden der Tatsachen.

Ein geerdeter Mensch hingegen, fühlt sich bereits sicher und braucht nichts mehr dafür tun. Er besitzt eine große innere Sicherheit, aus der er sein Urvertrauen gewinnt. Er hat sprichwörtlich Wurzeln, die tiefer gehen, in die Erde hinein, und die ihm – ähnlich einem Baum - seine Standhaftigkeit verleihen. Um zu verstehen, was die Menschen in der Türkei verloren haben, ist es wichtig, sich genau dieses Bild vor Augen zu führen. Eine Frau aus der Region beschrieb es uns Helfer:innen gegenüber so: „Durch das Beben ist meine gesamte Grundlage erschüttert. Mein Vertrauen in den Grund und Boden, der mich trägt. Es ist mehr, als der Verlust eines Hauses oder Heims. Es ist der Verlust des Vertrauens in etwas, auf das sich mein gesamtes Leben gründet.“

Ob die Menschen dieses Gefühl von Sicherheit je wieder zurückbekommen können, frage ich mich.
Einerseits sah man den Menschen die Schrecken der Erlebnisse an. Viele Menschen wirkten müde, erschöpft und man konnte spüren, dass sie vermutlich seit den Erlebnissen zwei Wochen zuvor nicht mehr richtig zur Ruhe gekommen waren.

Andererseits begegnete meinem Team und mir trotz allem immer noch so eine unfassbare Gastfreundschaft. „Danke, dass ihr da seid!“ war einer der Sätze, die wir am häufigsten von den Menschen zu hören bekamen. „Danke, dass ihr uns nicht allein lasst“. Einmal brachten uns ein Vater und sein Sohn ein Netz voller Orangen vorbei, die in der Region gerade überall in den Bäumen hingen, um sich irgendwie für unsere Hilfe zu bedanken. Unsere Nachbarn auf dem Camp-Gelände, an deren Lagerfeuer wir abends manchmal kamen, teilten selbstverständlich ihr Obst, Schokolade und einen heißen Tee mit uns. Unser Versuch abzulehnen, wurde nie akzeptiert. Es sind auch diese kleinen Momente von menschlicher Wärme, obwohl es eisigkalt ist, Teilen, obwohl man nichts hat und gemeinsam lachen, obwohl man die Sprache nicht spricht, die mir ebenfalls im Gedächtnis bleiben werden.

Womit ich auf der Heimreise nicht gerechnet habe; aber was mich dann erneut traf, waren wieder die Kontraste: Kaum aus dem Katastrophengebiet heraus, war auch der Rhythmus ein anderer. Das Leben und der Alltag der Menschen hier gingen unberührt von den Ereignissen dort weiter. In Istanbul am Flughafen fühlte ich mich regelrecht erschlagen: blinkende Werbetafeln, schwere Parfümdüfte aus den Duty-Free-Läden, Essen en masse. Hallo, Konsum…

Ich dachte an die Mutter, die neben unserem Camp wohnte und mich in der Nacht nach dem Erdbeben fragte, ob ich ein Paar Socken und einen Schlafsack oder ein Zelt für sie hätte. Sie hatte Angst, in ihr Haus zurückzukehren und wollte gerne zumindest ihre beiden Kinder warm einpacken. Sie sollen nicht frieren. Ich dachte daran, dass, wenn die Mutter schnell noch ein paar notwendige Dinge aus ihrem Haus hätte einpacken und greifen können, Parfüm garantiert nicht auf der Liste gestanden hätte. Was für eine privilegierte Luxusgesellschaft einem an Flughäfen doch begegnet.

Für mich fühlte es sich wie eine ganz andere Welt an, als die, die ich mit den Eindrücken der letzten Tage in mir trage. Der Kontrast zwischen dem Innen und Außen begleitete mich dann noch einige Tage nach meiner Rückkehr. Während meine Außenwelt wieder normal war, war es mein Inneres noch nicht. Zu präsent waren die Eindrücke der letzten Tage, zu heil alles um mich herum. Wie konnten die Menschen hier nur so unbekümmert und fröhlich sein, wenn es doch woanders so viel Leid gab? Wie konnten in Köln auf dem Boden noch bunte Konfetti von Karneval liegen, während in Samadag die Straßen grau vom Staub der Häuser waren?

Irgendwann wurde mir jedoch klar: zwar stehen die Häuser hier in den deutschen Straßen noch, doch auch hier erleben Menschen täglich Dinge, die man ihnen von außen nicht ansehen kann. Anderen Ausmaßes als zerstörte Städte, klar. Doch können nicht auch Alltagssorgen so schwer wiegen, dass sie einen manchmal regelrecht zu erdrücken scheinen? Ich dachte an Krankenhausmitarbeitende und Feuerwehrleute, die in ihren Berufen mitunter täglich mit Unglücken und Leid konfrontiert werden. Ich dachte an Menschen mit Geldnöten, Menschen mit Krankheiten, Menschen mit Sorgen um ihre Liebsten. Menschen, die völlig erschöpft sind und Menschen, die einfach im Inneren Kämpfe kämpfen, von denen wir im Außen oftmals keine Ahnung haben. Menschen, wie Du und ich.

Für mich bedeutet diese Erkenntnis vor allem eines: gnädiger mit den Menschen um mich herum zu sein. Man sieht den anderen nie an, was sie im Inneren mit sich herumtragen, wodurch sie handeln, wie sie handeln.

Seit zwei Wochen bin ich wieder zurück in Deutschland zurück und auch mein Alltag hat mich mittlerweile wieder. Doch haben die Erlebnisse in der Türkei auch bei mir Spuren hinterlassen. Was mir wichtig ist und was nicht, sehe ich für mich wieder klarer. Wie ironisch, dass ausgerechnet ein Einsatz in einem Erdbebengebiet dazu geführt hat, dass auch ich mich wieder ein stückweit mehr „geerdet“ fühlen darf. Das verdanke ich nicht zuletzt meinem großartigen Team, mit dem ich den Einsatz zusammen bestritten habe. Aber auch den zahllosen Menschen vor Ort, denen ich dort begegnen durfte und die mir mit ihrem Mut und ihrer Hoffnung gezeigt haben, dass es auch dann noch Wege nach vorne gibt, auch wenn diese durch riesige Trümmerberge zugestellt sind. Schritt für Schritt, Stein für Stein.

Heute Morgen erreichte mich auf mein Handy eine Nachricht von unserer Nachbarsfamilie in Samandag: „Hallo Sarah, wie geht es dir? Viele Grüße von deinen Nachbarn!“ Lächelnde Gesichter von der Mutter und ihren zwei Kindern, sechs winkende Hände.

Das Leben in Samandag geht weiter, irgendwie.